Vierteilige Radiosendung mit Lola Randl für den Deutschlandfunk, 2024/25
https://www.hoerspielundfeature.de/themenseite-und-jetzt-staffel-1-100.html
Ich wurde 1971 geboren. Gestern, im Gespräch mit meiner Tochter, ging es um Tiramisu, und mir kam dieser Song in den Kopf, „Ti-ra, Ti-ra-mi-su-su-su“, Mitte der Achtziger, Roberto Blanco, und ich sang ihn ihr vor und sagte: „Weißt du, ich war schon geboren, da kannte man Tiramisu in Deutschland noch nicht“, und sie seufzte ein bisschen, und ich sagte: „Sorry, Omama erzählt vom Krieg“ – weil man das Mitte der Achtziger Jahre so gesagt hat, wenn Fünfzigjährige Jugenderinnerungen teilten – und da sah sie mich an und meinte: „Falscher Spruch, den werde ich dann sagen.“ Und dann schwiegen wir.
Als ich Kind war, sang Roberto Blanco im Fernsehen bei Thomas Gottschalk, der in seiner Ankündigung immer einen rassistischen Witz machen musste, ich denke, er konnte nicht anders, er merkte’s nicht mal. Wer dahin zurückwill, in diese Art von angeblich kuschliger Normalität – es will mir nicht in den Kopf. Andererseits will mir auch nicht in den Kopf, dass bei uns heute jedes Familienmitglied sein eigenes Programm sieht, fünf Leute, fünf Endgeräte, null Austausch. Also lass ich mir die besten Witze vorführen, Louisa Masciullo auf Tiktok, wie brillant ist das. Nimmt sie das wirklich mit dem Handy auf? Alleine?
Als ich zur Schule ging, gab’s noch Telefonzellen. Irgendwann mit Karte, das war ganz praktisch. Wie es in so einer Telefonzelle roch, werde ich niemals vergessen. Es gab auch Walkmen, aber die Batterien hielten nicht lange. Batterien waren außerdem böse, weil umweltschädlich. Heute gelten andere Sachen als umweltschädlich, Wegwerfbecher. Als ich klein war, trank man noch nicht im Gehen. Warum auch?
Seit dreißig Jahren bin ich jetzt erwachsen.
1990 war ich mit meiner Stuttgarter Freien Gruppe zum Theatertreffen der Jugend eingeladen, ins heutige Haus der Kulturen der Welt. Weil gerade Wende gewesen war, gab’s auch eine Gruppe aus Ostberlin, vom Jugendclub International. Die machten richtiges Theater mit Deklamieren und bauschigen Hemden, und ihr Spielleiter stand ziemlich unter Strom. Unsere Spielleiterin fand den Körpertheatertypen aus Holland interessanter. Ich wollte gerne wissen, was und wie’s im Osten war. Ich zog hin. Erst nach Ostberlin, später dann nach Leipzig.
2001 war ich mit dem Studium fertig und hatte ein Aufenthaltsstipendium in Wiepersdorf. Ich war fast dreißig und in einem Künstlerhaus, hatte wenig Ahnung, wie’s weitergehen könnte. Ich wollte Familie und Karriere, wie sollte ich das anstellen, erstmal schreiben, klar, wozu sonst hatte ich das dreieinhalb Jahre lang studiert. Dann veröffentlichen. Leute kennenlernen, Kontakte pflegen und neu knüpfen, mich verlieben, jemanden in mich verliebt machen – für all das kann so ein Aufenthaltsstipendium nützlich sein. Und Geld gab es auch. Zweitausend Mark pro Monat. Soviel hatte ich noch nie gehabt. Aber was dann? Gleich zum nächsten aufbrechen?
Im Rückblick scheint die Zeit kurz, von oben sieht ein Durcheinander vielleicht ganz schön aus und mit Abstand ergibt sich sogar ein Bild. Mittendrin ist es völlig anders.
Zum Altwerden gehört dazu, sich auch an das zu erinnern, was mal galt. Niemals Papiertaschentücher auf die Erde werfen! zum Beispiel, als ich ungefähr acht war. Weil Vögel sie dann zum Nestbau nutzen, und ein Nest aus Zellstoff hält nicht lange. Ist gefährlich. Für den Nachwuchs, der noch nicht fliegen kann.
Ich wurde in Ulm geboren, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war damals, neunzehnhunderteinundsiebzig, noch sehr sehr klein.
Wie Stuttgart war, weiß ich. Wie es für mich war, zumindest, in der Robert-Leicht-Straße.
Robert Leicht war Brauereidirektor, und als ich Kind war, roch Stuttgart-Vaihingen tatsächlich noch nach Hefe manchen Tags. Anderntags auch nach Maracuja, wegen der Fruchtsaftfabrik.
Gerüche und zu wissen, wie’s für einen selbst war, ist gut für die Prosa. Die Vita will Fakten. Die kriegt sie auch.
Fakten tun so, als seien sie nicht auslegbar, entwickelten kein Eigenleben im Kopf desjenigen, der sie liest.
Abitur und Umzug nach Berlin. Ha! Wenn das nicht offen für Interpretationen ist – neunzehnhunderteinundneunzig zumal. Ich wohnte in Charlottenburg und trotzdem – ja, auch da! – roch es neu und fremd für mich nach Braunkohle.
Studium am Literaturinstitut in Leipzig. Ein Ausflug mit den Professoren Hartinger und Haslinger zur Braunkohleabbruchkante nahe Liebertwolkwitz. Was wir da wollten? Gucken, schätz ich mal.
Ich bin oft umgezogen. Auch geflohen oder genötigt worden. Einmal wurde über Nacht ein nichtgenehmigtes Badezimmerfenster von außen zugemauert – was nicht so schlimm war, ich kannte fensterlose Bäder.
Eine Vita anhand der Badezimmer – oder auch der nicht vorhandenen Badezimmer – erzählen. Anhand der Heizungen, Vorhangstangen, Treppenhausgeländer. Entlang der Such- und Flucht- und Abbruchbewegungen, wäre das was?
Keiner war je da, wo er herkam oder hingehörte, Heimat, Herkunft, Zugehörigkeit gab’s trotzdem. Bali sieht aus wie die Schwäbische Alb.
Meine Kinder sind alle in Berlin-Kreuzberg geboren. Meine Eltern – als meine Eltern – kamen auch von dort, aus der Mariannenstraße. Drei, vier Fotos gibt’s noch, auf ihnen erkenne ich meine Eltern allerdings nicht wieder. Eltern erkennt man – so hat’s die Natur wohl eingerichtet – in den ersten paar Wochen allein am Geruch.
Und Kreuzberg ist weit offen für Interpretationen!
„Du verpasst es, und ich auch“, hat mein Vater später in Stuttgart in einem Gedicht geschrieben. Eine Vita anhand dessen schreiben, was man auf keinen Fall verpasst haben will?
Neunzehnhundertfünfundneunzig stand ich mit József, meinem damaligen Freund, auf einem abschüssigen Grundstück in Südungarn. Es war seines, er hatte es sich verdient, indem er Bücher verkauft hat vor der FU. Darauf ein Haus bauen!, ich war nicht mehr dabei, als er’s schließlich getan hat.
Ich bin Schriftstellerin geworden. Klingt komisch in meinen Ohren, ist aber Fakt. Es gibt ein Diplom, eine Liste von Veröffentlichungen, jährliche Steuerbescheide. Stipendien und Preise. Leser*innenreaktion. Oh ja!, es gibt ein Werk. Ganz weit offen für Interpretationen.
Wo ich momentan wohne, wird sechs Tage die Woche von früh morgens an gebaut.
Ich wurde 1971 in Ulm an der Donau geboren, aber ich komme nicht von dort; es hatte meine Eltern nur kurzzeitig dahin verschlagen. Aufgewachsen bin ich in Stuttgart. Nach dem Abitur 1991 bin ich nach Berlin gezogen und habe dort begonnen, mich mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden. Kunst und Leben neben den Institutionen – bis auf das ‚Trend-Studio‘, ein Marktforschungsinstitut, in dem ich Geld verdient habe. Irgendwann sind dann aber doch alle an irgendwelche Kunsthochschulen oder Universitäten gegangen, also bin ich nach Leipzig ans Literaturinstitut und habe dort von 1997-2001 studiert. Leipzig fand ich noch viel besser als Berlin – vermutlich deshalb, weil sich die Stadt mit dem, was ich tat, ganz direkt verband: durch das DLL, die Buchmesse, das Ilses Erika, die billigen Wohnungen. Es war toll, mittendrin zu sein; ich habe Bafög bezogen und musste nicht mehr jobben.
2002 bin ich aber zurück nach Berlin; ich war schwanger und fand, dass das Kind in der Hauptstadt aufwachsen muss. Nein, falsch: dass Provinz plus Elternschaft dann doch eins zuviel ist. Wenn schon unbeweglich, dann wenigstens da, wo alle sind –
Inzwischen war ich Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer, hatte die ersten Bücher veröffentlicht und Vorschüsse erhalten. Habe dann noch einen Preis gewonnen und ein Stipendium vom Senat gekriegt; Aufenthaltsstipendien gingen nicht mehr mit Familie.
Die wurde größer, noch ein Kind, dann noch eins. Ich habe geheiratet und mit einer Genossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg gebaut. Das Geld für die Einlage hat meine Mutter ursprünglich für ihre dritten Zähne gespart, die sie dann nicht mehr brauchte.
Seit 2001 lebe ich vom Schreiben, Prosa und Drehbuch, und die Kinder kriegen Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
2013 habe ich zum ersten Mal unterrichtet, am Literaturinstitut in Leipzig und an der Filmakademie in Ludwigsburg.
Es gab in diesen fünfzehn Jahren, in denen ich Schriftstellerin bin, sehr unterschiedliche Phasen. Im Rückblick war die Zeit, als kein Verlag ‚Bodentiefe Fenster‘ geschweige denn ‚Fürsorge‘ drucken wollte, eine Durststrecke. Eine Talsohle? Eine Lektion! Rückblickend kann ich sagen, gut so, ich weiß jetzt, dass ich wirklich schreiben will und es auch unabhängig von Markt und Mechanismus tun kann; aber ich hüte mich, so was wie Dankbarkeit zu empfinden. Dafür war es währenddessen zu übel. Und Erfolg und Aufmerksamkeit haben natürlich ebenfalls ihre Schattenseiten! Zwar reden plötzlich Fremde mit einem, dafür Bekannte nicht mehr, und das Einkommen übersteigt die Bemessungsgrenze fürs BuT, sodass nach Zahlung des Lehrmittelfonds, der Klassenfahrten und Klavierstunden weniger übrigbleibt als vorher. Aber ich hüte mich, mich darüber zu beschweren. Dafür ist es allemal zu gut.
Ich wurde 1971 in Ulm an der Donau geboren, aber ich komme nicht von dort; es hatte meine Eltern nur kurzzeitig dahin verschlagen. Aufgewachsen bin ich in Stuttgart. Nach dem Abitur 1991 bin ich nach Berlin gezogen und habe dort begonnen, mich mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden. Kunst und Leben neben den Institutionen – bis auf das ‚Trend-Studio‘, ein Marktforschungsinstitut, in dem ich Geld verdient habe. Irgendwann sind dann aber doch alle an irgendwelche Kunsthochschulen oder Universitäten gegangen, also bin ich nach Leipzig ans Literaturinstitut und habe dort von 1997-2001 studiert. Leipzig fand ich noch viel besser als Berlin – vermutlich deshalb, weil sich die Stadt mit dem, was ich tat, ganz direkt verband: durch das DLL, die Buchmesse, das Ilses Erika, die billigen Wohnungen. Es war toll, mittendrin zu sein; ich habe Bafög bezogen und musste nicht mehr jobben.
2002 bin ich aber zurück nach Berlin; ich war schwanger und fand, dass das Kind in der Hauptstadt aufwachsen muss. Nein, falsch: dass Provinz plus Elternschaft dann doch eins zuviel ist. Wenn schon unbeweglich, dann wenigstens da, wo alle sind –
Inzwischen war ich Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer, hatte die ersten Bücher veröffentlicht und Vorschüsse erhalten. Habe dann noch einen Preis gewonnen und ein Stipendium vom Senat gekriegt; Aufenthaltsstipendien gingen nicht mehr mit Familie.
Die wurde größer, noch ein Kind, dann noch eins. Ich habe geheiratet und mit einer Genossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg gebaut. Das Geld für die Einlage hat meine Mutter ursprünglich für ihre dritten Zähne gespart, die sie dann nicht mehr brauchte.
Seit 2001 lebe ich vom Schreiben, Prosa und Drehbuch, und die Kinder kriegen Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
2013 habe ich zum ersten Mal unterrichtet, am Literaturinstitut in Leipzig und an der Filmakademie in Ludwigsburg.
Verlag der Autoren
Dr. Sebastian Richter
Tel: 069/ 238574 - 33
richter[at]verlagderautoren.de
verlagderautoren.de
Vierteilige Radiosendung mit Lola Randl für den Deutschlandfunk, 2024/25
https://www.hoerspielundfeature.de/themenseite-und-jetzt-staffel-1-100.html
Roman-Manuskript
Der Wohnzimmerschrank. Der Bastrock. Die Liebe. Der Hermèshals.
Drehbuch, 2022, Neue Schönhauser Filmproduktion, gefördert von der FFA
https://neueschoenhauser.de/filme-in-entwicklung/schaefchen-im-trockenen/
AUSSEN – GARTEN ‚K23‘ – TAG
MATHILDA (8) lässt ein Körbchen an einer Schnur von ihrem Balkon hinunter.
SOPHIE (8) nimmt unten die Zwölferpackung Mini-Magnums, die darin liegt, heraus und rennt damit zur Feuerschale.
MATHILDA
(kreischt vom Balkon)
Warte, Sophie! Ich verteile!
Interview, 2021, Junge Welt
https://www.jungewelt.de/artikel/416993.literatur-schon-mal-gehobenen-sex-gehabt.html
Ekel und Überempfindlichkeiten würden Schriftsteller vor hohlen Routinen schützen, schrieb Walter Benjamin in "Linke Melancholie". Können Sie damit etwas anfangen?
Voll – um mal in Jugendsprache zu antworten. Aber sofort schließt sich (in meinem Hirn zumindest) die Frage an, wer sich die leisten kann. Diese Gefühle, die einen in ständiger Verletzbarkeit halten. Wer die sich vor allem sein ganzes Leben über bewahren kann, ohne daran zu zerbrechen. Ich glaube, dass Benjamin recht hat, dass Kästner sich nach dem, wovor er sich ekeln wollte, gleichzeitig gesehnt hat, und dass das seine Texte vielleicht zu Midcult hat werden lassen – um mal in Wissenschaftssprache zu verfallen. Aber er war halt auch ein Aufsteigerkind, er wollte sich das Bisschen Macht und Einfluss und Zigarre und Torte nicht sofort wieder kaputtmachen. Und hat dafür ganz bestimmt künstlerisch was dreingegeben. Allerdings fürchte ich, dass Benjamin auch so seine Blinden Flecken hatte. Identitätspolitisch gesprochen, hatten sie wohl echt krass unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen, und es wäre schön gewesen, wenn sie sich die gegenseitig erzählt und zugestanden hätten, in einem woken psychologischen Schreibzirkel etwa, immer donnerstags, um dann weiterzuleben und weiterzuschreiben und die Nazis zu besiegen.
Gastgeberin TV-Show, 2021/22, für Lola Randl und arte
Drehbuch-Episode, 2021, für Jan Krüger und Schrammfilm
INNEN – SUBWAY-IMBISS – TAG
Susanne sitzt Theo gegenüber, der konzentriert sein Hühnchen-sandwich verspeist. Susanne isst nichts, beobachtet Theo beim Essen.
SUSANNE
Dass der Trainer so rumschreit, find ich
echt nicht okay.
THEO
Muss er doch.
SUSANNE
Aber er muss keine Ausdrücke verwenden.
THEO
Was soll er machen.
Wir sind halt einfach schlecht.
Lyrikübersetzung, 2020, in Allen Ginsberg – Lyrik, Blumenbar
https://www.aufbau-verlage.de/blumenbar/lyrik-poetry/978-3-351-05097-9
Sei gut zu deinem Ich das weint unterm
Moskauer Mond und versteck deine Glückshaare
unterm Regenmantel und in Wildlederjeans –
(Allen Ginsberg)
Anthologiebeitrag, 2021, in Tanja Raich – Das Paradies ist weiblich, Kein und Aber
https://keinundaber.ch/de/literary-work/das-paradies-ist-weiblich/
Essay, 2021, WOZ
https://www.woz.ch/-ba22
Erzählungssammlung, 2020, Verbrecher Verlag
https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/1032
Anthologiebeitrag, 2020, für Christian Baron und Maria Barankow – Klasse und Kampf
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/klasse-und-kampf-9783546100250.html
Essay, 2020, für Hannes Brühwiler und David Wegmüller
Roman, 2018, Verbrecher Verlag
https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/941
Roman, 2017, Verbrecher Verlag
https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/886
Alles, was leicht aussieht, ist in Wirklichkeit das Ergebnis harter Arbeit.
Nadja drückt den Knopf der Stereoanlage, und schon erfüllt Musik den Raum. Ein Streichkonzert, schwerelose Töne, doch für den Geiger bedeuten sie blutige Fingerkuppen, verkürzte Halssehnen, Fehlstellungen der Wirbelsäule. Um bei der Aufnahme dieses Konzertes mitwirken zu dürfen, haben er und seine Lieben ein Leben voller Entbehrungen hinter sich. Die Mutter des kleinen Geigers musste sich anfangs das hilflose Gekratze des Bogens über die Saiten anhören, das Kind zum Üben zwingen, jeden Tag mindestens zwei Stunden lang. Gehasst wurde sie von dem Kind für ihre Strenge, bis der Hass dann in Dankbarkeit umschlug, weil Anerkennung von außen die inneren Qualen vergessen ließ.
Das ist das Stichwort: Vergessen! Dieser gnädige Mechanismus im menschlichen Gehirn – oder funktioniert es chemisch? Jedenfalls gibt es keine körperliche Erinnerung an den Schmerz, und falls es je etwas anderes im Leben gab als die Musik, ist das inzwischen vergessen, verdrängt von Orchesterfreizeiten, Auftritten, einem Preis bei ‚Jugend musiziert’, dem Schulterklopfen des Musiklehrers, den neidvollen Blicken der Mütter abgeschlagener Konkurrenten – Mütter, deren Kinder zuviel am Computer spielen. Nicht so der kleine Geiger! Der geht am Abend erfüllt von seinem Erfolg zu Bett und weiß am nächsten Tag schon beim Aufwachen, was er zu tun hat.
Roman ab 11, 2017, cbt
https://www.penguinrandomhouse.de/Taschenbuch/Erna-und-die-drei-Wahrheiten/Anke-Stelling/cbj-Kinderbuecher/e547179.rhd
In der Schule angekommen, gehe ich zuerst aufs Klo, um die Strumpfhose, zu der Annette mich gezwungen hat, wieder auszuziehen. Erstens haben Ureinwohner keine Strumpfhosen, und zweitens gibt es keine Strumpfhosen, wo mir nicht nach zwei Schritten der Zwickel zwischen den Knien hängt. Das ist so unangenehm, und ich will ja nicht dauernd unter meinem Kleid die Strumpfhosenbeine wieder hochziehen. Annette hat gemeint, man kriege das Problem in den Griff, indem man eine zweite Unterhose über die Strumpfhose zöge, aber jetzt mal ehrlich: wenn das jemand sieht, kann ich die nächsten acht Wochen nicht mehr in die Schule gehen.
Roman, 2015, Verbrecher Verlag
https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/761
Hendrik: „Warum gehst du überhaupt zu diesen Kindergeburtstagen, sag‘s mir!“
Ich: „Weil wir eingeladen waren, ganz einfach.“
Er: „Stimmt doch nicht. Wer will, kann dazukommen, stand in Berits Mail.“
Ich: „Aber wenn man nicht kommt, dann wird das bemerkt.“
Er: „Na und?“
Ich: „Dann denkt Berit, dass ich sie nicht mag.“
Hendrik: „– –“
Ich: „Guck nicht so. Ich hab nichts gegen sie.“
Hendrik: „Aber gegen Finn.“
Ich: „Ja genau. Wer weiß, was Finn Bo tut, wenn ich nicht dabei bin.“
Er: „Da waren genug erwachsene Aufpasser im Garten.“
Ich: „Und du weißt doch, die machen‘s nur noch schlimmer.“
Hendrik lacht. Ich werde wütend.
Ich: „Ich weiß nicht, wie ich‘s machen soll! Bo ist noch zu klein, um sich da alleine durchzufinden!“
Hendrik: „Hör auf, Bo vorzuschieben. Du sagst gerade selbst, dass du‘s nicht besser weißt als er.“
Ich: „Wenn wir hier bei nichts mehr mitmachen, fliegen wir hier raus!“
Hendrik: „Quatsch. Das will ich erst mal sehen, wer uns rausschmeißt.“
Er hat recht. Es ist schwer zu ertragen, wie recht er dauernd hat.
Drehbuch-Exposé, 2014, nach einer Idee von Franziska Petri
Theaterstück ab 6, 2011
Roman, 2010, S.Fischer
https://www.fischerverlage.de/buch/anke-stelling-horchen-9783104007182
Katja sieht Gernot beim Schlafen zu. Er liegt von ihr abgewandt auf der Seite, sein Rücken reflektiert das schwache Licht, das durch die Luke herein fällt. Katja darf sich ihm nicht nähern, muss sich zwingen, nur zu schauen, seinen Rücken nicht zu berühren. Sobald sie seine Haut spürt, will sie darunter verschwinden. Aber sie darf ihn auf keinen Fall wecken. Wenn sie ihn weckt, wird er böse werden. Sie muss schlafen. Und von ihm geweckt werden.
Vorsichtig dreht sie sich um. Es nützt nichts, das Zittern bleibt. Wird eher noch stärker; Katja schließt mühsam die Augen und horcht in sich hinein. Da ist nichts als das Vibrieren ihrer Zellen, ein summendes Verlangen von den Zehen bis hinauf in den Hals. Katja versucht, flach zu atmen.
Es ist die Luft in dieser Kammer, irgendein Zauber, der bewirkt, dass Gernot ihren Körper anzieht wie ein Magnet, ihre Zellen auf sich ausrichtet, die bisher wirr um sich selbst trudelten. Wenn sie neben ihm liegt, sind sie bereit für den nächsten Einsatz, warten zitternd auf ein Signal.
Der Tag kommt, macht die Kammer erst grau und dann hell.
Katja drückt ihr Gesicht in das klumpige Kopfkissen. Zählt leise an.
Eins zwei drei. Bei vier ist es vorbei.
Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie gehört jetzt Gernot.
Erzählungssammlung, 2004, S.Fischer
www.fischerverlage.de
„Lügst du oft?“, fragte Simone, als sie im Bett lagen. Sie hatte die Decke zwischen den Knien zusammengeknüllt und sah in Hannes’ alkoholverschleierte Augen.
„Ich glaube nicht“, sagte er und gähnte.
„Okay, wie oft?“, fragte Simone. „Heute abend zum Beispiel.“
„Was meinst du? Wann soll ich gelogen haben?“
„Keine Ahnung.“
Hannes gähnte wieder. „Sag, worauf du hinauswillst. Ich kann nicht mehr gut denken.“
„Irgendwas ist faul“, sagte Simone. „Und ich krieg’s raus. Glaub bloß nicht, dass ich das nicht rauskriege.“
Hannes sah sie an und lächelte. Ein schönes, breites Lächeln über dem frischrasierten Kinn. Seit Simone sich ganz zu Anfang beim Küssen wundgerieben hatte, rasierte er sich auch abends, egal, wie müde er war.
„Ist doch gutgegangen“, murmelte er. Dann fielen ihm die Augen zu.
Simone starrte weiter. Seine Wimpern waren dicht und dunkel, die Ohren standen ein bisschen ab. Er schlief ohne Pyjamajacke, sodass seine Schulter im Licht der Nachttischlampe schimmerte. Er war alles, was man sich nur wünschen konnte, und sie hatte ihn sich geschnappt und wohnte mit ihm in einem Haus auf dem Land, wo nicht mal die Nachbarn noch zum Fürchten waren. Bald, laut Berechnung schon Ende August, würde das Baby kommen; es würde die gleichen Wimpern haben wie er und noch weichere Haut. Sie war die Mutter, und die nächsten zwanzig Jahre ihres Lebens würden nicht sinnlos verstreichen, sondern gegliedert werden von Terminen, die das Kind vorgab: Laufenlernen, Einschulung, erste Regelblutung, Auszug. Sie und Hannes würden währenddessen alt werden, aber das würde unbemerkt geschehen, ganz natürlich und ohne Reue. Hannes und Simone. Helmut und Susanne. Charles und Diana. Elternpaare, TV-Romane. Das, wovon sie geträumt hatte.
Prosareihe, 2002
Diaschaureihe, 2000/01, für die Lancaster Let Show im Ilses Erika, Leipzig
Roman, 2001, mit Robby Dannenberg, S.Fischer
www.fischerverlage.de
Roman , 1999 , mit Robby Dannenberg, Ammann Verlag
de.wikipedia.org/wiki/Ammann_Verlag
Ich glaub nicht, dass Männer wirklich besser dran sind. Ich wär nicht gern’n Mann. Vielleicht gern ne andere Frau, aber kein Mann. Vielleicht, wenn ich einen kennen würde, der wirklich glücklich ist, aber ich hab langsam das Gefühl, dass sie’s sogar noch schlechter haben.
Zwar haben Männer die Macht und meistens mehr Geld und werden zu Hause versorgt, aber ich glaub, insgesamt sind sie ziemlich einsam. Ich weiß nicht, mit wem der Mirko reden kann, und ich weiß nicht, mit wem der Paul redet. Vor Freunden zählen nur große Sprüche und vor den Frauen der starke Max. Mit ihren Müttern reden sie auch nicht, damit hören sie spätestens auf, wenn sie zehn sind. Wo das alles hingeht, frag ich mich. Ich würde durchdrehn, wenn ich alles mit mir allein abmachen müsste. Das hab ich ja gemerkt in der Zeit, als ich mit niemandem über Paul hab reden können. Und die Männer, also die, die ich kenne, haben dauernd diesen Zustand. Von wo sie zehn sind bis an ihr Lebensende, und egal, was passiert.
Gisela war nie ne Frau, die von irgendwo einfach abhauen konnte, und deshalb konnt ich sie auch von vornherein nur ficken und dann wegschicken, mal abgesehen davon, dass sie nun wirklich nicht die Frau des Jahres war. Aber dafür hat sie geil gefickt, und das werd ich ihr nie vergessen, bis ich tot bin bestimmt nicht. Und es ist gut, wenn ein Mann geile Erinnerungen hat, weil jeder irgendwann allein ist, und wenn es nur mal ne Woche im Krankenhaus ist, und wenn er es sich dann macht, dann ist seine Hand diese Erinnerung oder so, und das ist eine gute Sache. Gisela ist nie richtig abgehauen von ihrem Macker und auch nicht von ihren Alten, und vielleicht auch nicht von mir.
Diaschau
1999
mit Fanni Halmburger
Prosareihe, 1997
Wir sagen vier zu vier, aber in Wahrheit steht es eins zu sieben.
Chronik ist gut, aber hat irgend jemand ernsthaft darüber nachgedacht, was es bedeutet, das alles Schwarz auf Weiß zu haben?
Es ist gut, in Rätseln zu sprechen. Es ist gut, Bescheid zu wissen. Niemand soll sich später darauf herausreden können, nicht dabeigewesen zu sein.
Einer von uns, ich sag jetzt nicht wer, hat vor zwei Jahren im Café Schwarzsauer gesagt, dass er genug hat von der Autobiografie-Scheiße. Nicht im Sinne davon, dass er sie nicht länger aushält, sondern in dem Sinn, dass er sie nicht mehr braucht. Er ist drüber hinweg. Macht jetzt andere Sachen.
Das ist wahr. Wir haben ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, außer ab und zu auf der Bühne. Hinterher in den Aufführungsgesprächen konnten dann auch einige von uns nicht mehr folgen, ich zum Beispiel. Ich hab mich geschämt, aber da waren ja noch andere.
Im Podewil in Berlin findet jedes Jahr ein Festival statt, Reich und Berühmt. Der Titel ist ironisch gemeint, aber es ist doch sehr wichtig, wer dort ist. Man sitzt auf abgeschabten Couches und trinkt Beck's aus der Flasche; diejenigen, die Gage kriegen, bestellen italienisches Essen und kennen den Wirt mit Namen. Manche von uns kriegen schon seit Jahren Gage, manche manchmal ein bisschen, und manche kommen nur zu den Aufführungen und wissen nicht genau, wo die Toiletten sind.
Der jedenfalls, der gesagt hat, dass er die Autobiografie nicht mehr braucht, hat einige von uns so verunsichert, dass sie Lyriker geworden sind oder angefangen haben, ein Instrument zu lernen. Oder jeden Tag zu Mango in die Schönhauser Allee Arkaden fahren, um sich durchsichtige Blusen zu kaufen.