Ich wurde 1971 geboren. Gestern, im Gespräch mit meiner Tochter, ging es um Tiramisu, und mir kam dieser Song in den Kopf, „Ti-ra, Ti-ra-mi-su-su-su“, Mitte der Achtziger, Roberto Blanco, und ich sang ihn ihr vor und sagte: „Weißt du, ich war schon geboren, da kannte man Tiramisu in Deutschland noch nicht“, und sie seufzte ein bisschen, und ich sagte: „Sorry, Omama erzählt vom Krieg“ – weil man das Mitte der Achtziger Jahre so gesagt hat, wenn Fünfzigjährige Jugenderinnerungen teilten – und da sah sie mich an und meinte: „Falscher Spruch, den werde ich dann sagen.“ Und dann schwiegen wir.
Als ich Kind war, sang Roberto Blanco im Fernsehen bei Thomas Gottschalk, der in seiner Ankündigung immer einen rassistischen Witz machen musste, ich denke, er konnte nicht anders, er merkte’s nicht mal. Wer dahin zurückwill, in diese Art von angeblich kuschliger Normalität – es will mir nicht in den Kopf. Andererseits will mir auch nicht in den Kopf, dass bei uns heute jedes Familienmitglied sein eigenes Programm sieht, fünf Leute, fünf Endgeräte, null Austausch. Also lass ich mir die besten Witze vorführen, Louisa Masciullo auf Tiktok, wie brillant ist das. Nimmt sie das wirklich mit dem Handy auf? Alleine?
Als ich zur Schule ging, gab’s noch Telefonzellen. Irgendwann mit Karte, das war ganz praktisch. Wie es in so einer Telefonzelle roch, werde ich niemals vergessen. Es gab auch Walkmen, aber die Batterien hielten nicht lange. Batterien waren außerdem böse, weil umweltschädlich. Heute gelten andere Sachen als umweltschädlich, Wegwerfbecher. Als ich klein war, trank man noch nicht im Gehen. Warum auch?
Seit dreißig Jahren bin ich jetzt erwachsen.
1990 war ich mit meiner Stuttgarter Freien Gruppe zum Theatertreffen der Jugend eingeladen, ins heutige Haus der Kulturen der Welt. Weil gerade Wende gewesen war, gab’s auch eine Gruppe aus Ostberlin, vom Jugendclub International. Die machten richtiges Theater mit Deklamieren und bauschigen Hemden, und ihr Spielleiter stand ziemlich unter Strom. Unsere Spielleiterin fand den Körpertheatertypen aus Holland interessanter. Ich wollte gerne wissen, was und wie’s im Osten war. Ich zog hin. Erst nach Ostberlin, später dann nach Leipzig.
2001 war ich mit dem Studium fertig und hatte ein Aufenthaltsstipendium in Wiepersdorf. Ich war fast dreißig und in einem Künstlerhaus, hatte wenig Ahnung, wie’s weitergehen könnte. Ich wollte Familie und Karriere, wie sollte ich das anstellen, erstmal schreiben, klar, wozu sonst hatte ich das dreieinhalb Jahre lang studiert. Dann veröffentlichen. Leute kennenlernen, Kontakte pflegen und neu knüpfen, mich verlieben, jemanden in mich verliebt machen – für all das kann so ein Aufenthaltsstipendium nützlich sein. Und Geld gab es auch. Zweitausend Mark pro Monat. Soviel hatte ich noch nie gehabt. Aber was dann? Gleich zum nächsten aufbrechen?
Im Rückblick scheint die Zeit kurz, von oben sieht ein Durcheinander vielleicht ganz schön aus und mit Abstand ergibt sich sogar ein Bild. Mittendrin ist es völlig anders.
Zum Altwerden gehört dazu, sich auch an das zu erinnern, was mal galt. Niemals Papiertaschentücher auf die Erde werfen! zum Beispiel, als ich ungefähr acht war. Weil Vögel sie dann zum Nestbau nutzen, und ein Nest aus Zellstoff hält nicht lange. Ist gefährlich. Für den Nachwuchs, der noch nicht fliegen kann.
Ich wurde in Ulm geboren, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war damals, neunzehnhunderteinundsiebzig, noch sehr sehr klein.
Wie Stuttgart war, weiß ich. Wie es für mich war, zumindest, in der Robert-Leicht-Straße.
Robert Leicht war Brauereidirektor, und als ich Kind war, roch Stuttgart-Vaihingen tatsächlich noch nach Hefe manchen Tags. Anderntags auch nach Maracuja, wegen der Fruchtsaftfabrik.
Gerüche und zu wissen, wie’s für einen selbst war, ist gut für die Prosa. Die Vita will Fakten. Die kriegt sie auch.
Fakten tun so, als seien sie nicht auslegbar, entwickelten kein Eigenleben im Kopf desjenigen, der sie liest.
Abitur und Umzug nach Berlin. Ha! Wenn das nicht offen für Interpretationen ist – neunzehnhunderteinundneunzig zumal. Ich wohnte in Charlottenburg und trotzdem – ja, auch da! – roch es neu und fremd für mich nach Braunkohle.
Studium am Literaturinstitut in Leipzig. Ein Ausflug mit den Professoren Hartinger und Haslinger zur Braunkohleabbruchkante nahe Liebertwolkwitz. Was wir da wollten? Gucken, schätz ich mal.
Ich bin oft umgezogen. Auch geflohen oder genötigt worden. Einmal wurde über Nacht ein nichtgenehmigtes Badezimmerfenster von außen zugemauert – was nicht so schlimm war, ich kannte fensterlose Bäder.
Eine Vita anhand der Badezimmer – oder auch der nicht vorhandenen Badezimmer – erzählen. Anhand der Heizungen, Vorhangstangen, Treppenhausgeländer. Entlang der Such- und Flucht- und Abbruchbewegungen, wäre das was?
Keiner war je da, wo er herkam oder hingehörte, Heimat, Herkunft, Zugehörigkeit gab’s trotzdem. Bali sieht aus wie die Schwäbische Alb.
Meine Kinder sind alle in Berlin-Kreuzberg geboren. Meine Eltern – als meine Eltern – kamen auch von dort, aus der Mariannenstraße. Drei, vier Fotos gibt’s noch, auf ihnen erkenne ich meine Eltern allerdings nicht wieder. Eltern erkennt man – so hat’s die Natur wohl eingerichtet – in den ersten paar Wochen allein am Geruch.
Und Kreuzberg ist weit offen für Interpretationen!
„Du verpasst es, und ich auch“, hat mein Vater später in Stuttgart in einem Gedicht geschrieben. Eine Vita anhand dessen schreiben, was man auf keinen Fall verpasst haben will?
Neunzehnhundertfünfundneunzig stand ich mit József, meinem damaligen Freund, auf einem abschüssigen Grundstück in Südungarn. Es war seines, er hatte es sich verdient, indem er Bücher verkauft hat vor der FU. Darauf ein Haus bauen!, ich war nicht mehr dabei, als er’s schließlich getan hat.
Ich bin Schriftstellerin geworden. Klingt komisch in meinen Ohren, ist aber Fakt. Es gibt ein Diplom, eine Liste von Veröffentlichungen, jährliche Steuerbescheide. Stipendien und Preise. Leser*innenreaktion. Oh ja!, es gibt ein Werk. Ganz weit offen für Interpretationen.
Wo ich momentan wohne, wird sechs Tage die Woche von früh morgens an gebaut.
Ich wurde 1971 in Ulm an der Donau geboren, aber ich komme nicht von dort; es hatte meine Eltern nur kurzzeitig dahin verschlagen. Aufgewachsen bin ich in Stuttgart. Nach dem Abitur 1991 bin ich nach Berlin gezogen und habe dort begonnen, mich mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden. Kunst und Leben neben den Institutionen – bis auf das ‚Trend-Studio‘, ein Marktforschungsinstitut, in dem ich Geld verdient habe. Irgendwann sind dann aber doch alle an irgendwelche Kunsthochschulen oder Universitäten gegangen, also bin ich nach Leipzig ans Literaturinstitut und habe dort von 1997-2001 studiert. Leipzig fand ich noch viel besser als Berlin – vermutlich deshalb, weil sich die Stadt mit dem, was ich tat, ganz direkt verband: durch das DLL, die Buchmesse, das Ilses Erika, die billigen Wohnungen. Es war toll, mittendrin zu sein; ich habe Bafög bezogen und musste nicht mehr jobben.
2002 bin ich aber zurück nach Berlin; ich war schwanger und fand, dass das Kind in der Hauptstadt aufwachsen muss. Nein, falsch: dass Provinz plus Elternschaft dann doch eins zuviel ist. Wenn schon unbeweglich, dann wenigstens da, wo alle sind –
Inzwischen war ich Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer, hatte die ersten Bücher veröffentlicht und Vorschüsse erhalten. Habe dann noch einen Preis gewonnen und ein Stipendium vom Senat gekriegt; Aufenthaltsstipendien gingen nicht mehr mit Familie.
Die wurde größer, noch ein Kind, dann noch eins. Ich habe geheiratet und mit einer Genossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg gebaut. Das Geld für die Einlage hat meine Mutter ursprünglich für ihre dritten Zähne gespart, die sie dann nicht mehr brauchte.
Seit 2001 lebe ich vom Schreiben, Prosa und Drehbuch, und die Kinder kriegen Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
2013 habe ich zum ersten Mal unterrichtet, am Literaturinstitut in Leipzig und an der Filmakademie in Ludwigsburg.
Es gab in diesen fünfzehn Jahren, in denen ich Schriftstellerin bin, sehr unterschiedliche Phasen. Im Rückblick war die Zeit, als kein Verlag ‚Bodentiefe Fenster‘ geschweige denn ‚Fürsorge‘ drucken wollte, eine Durststrecke. Eine Talsohle? Eine Lektion! Rückblickend kann ich sagen, gut so, ich weiß jetzt, dass ich wirklich schreiben will und es auch unabhängig von Markt und Mechanismus tun kann; aber ich hüte mich, so was wie Dankbarkeit zu empfinden. Dafür war es währenddessen zu übel. Und Erfolg und Aufmerksamkeit haben natürlich ebenfalls ihre Schattenseiten! Zwar reden plötzlich Fremde mit einem, dafür Bekannte nicht mehr, und das Einkommen übersteigt die Bemessungsgrenze fürs BuT, sodass nach Zahlung des Lehrmittelfonds, der Klassenfahrten und Klavierstunden weniger übrigbleibt als vorher. Aber ich hüte mich, mich darüber zu beschweren. Dafür ist es allemal zu gut.
Ich wurde 1971 in Ulm an der Donau geboren, aber ich komme nicht von dort; es hatte meine Eltern nur kurzzeitig dahin verschlagen. Aufgewachsen bin ich in Stuttgart. Nach dem Abitur 1991 bin ich nach Berlin gezogen und habe dort begonnen, mich mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden. Kunst und Leben neben den Institutionen – bis auf das ‚Trend-Studio‘, ein Marktforschungsinstitut, in dem ich Geld verdient habe. Irgendwann sind dann aber doch alle an irgendwelche Kunsthochschulen oder Universitäten gegangen, also bin ich nach Leipzig ans Literaturinstitut und habe dort von 1997-2001 studiert. Leipzig fand ich noch viel besser als Berlin – vermutlich deshalb, weil sich die Stadt mit dem, was ich tat, ganz direkt verband: durch das DLL, die Buchmesse, das Ilses Erika, die billigen Wohnungen. Es war toll, mittendrin zu sein; ich habe Bafög bezogen und musste nicht mehr jobben.
2002 bin ich aber zurück nach Berlin; ich war schwanger und fand, dass das Kind in der Hauptstadt aufwachsen muss. Nein, falsch: dass Provinz plus Elternschaft dann doch eins zuviel ist. Wenn schon unbeweglich, dann wenigstens da, wo alle sind –
Inzwischen war ich Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer, hatte die ersten Bücher veröffentlicht und Vorschüsse erhalten. Habe dann noch einen Preis gewonnen und ein Stipendium vom Senat gekriegt; Aufenthaltsstipendien gingen nicht mehr mit Familie.
Die wurde größer, noch ein Kind, dann noch eins. Ich habe geheiratet und mit einer Genossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg gebaut. Das Geld für die Einlage hat meine Mutter ursprünglich für ihre dritten Zähne gespart, die sie dann nicht mehr brauchte.
Seit 2001 lebe ich vom Schreiben, Prosa und Drehbuch, und die Kinder kriegen Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
2013 habe ich zum ersten Mal unterrichtet, am Literaturinstitut in Leipzig und an der Filmakademie in Ludwigsburg.